Habriela (Ukraine), DIE GEGENSTÄNDE

1. Der Blumenstrauß

Ich mag keine Blumensträuße. Denn ich finde es blöd, Blumen abzuschneiden und ihnen beim Verwelken zuzusehen. Ich kaufe mir lieber eine lebendige Blume – oder zumindest eine Blume, die auch im trockenen Zustand sich selbst gleich bleibt — so wie der Strandflieder.

So ein Strauß von violettem Strandflieder begegnet mir im Rewe-Supermarkt hinter dem Mainzer Staatstheater. Ich lege ihn ganz impulsiv in meinen roten Einkaufskorb. Er erinnert mich an einen Strauß, den ich in Kyjiw besessen habe – zu einer Zeit ohne Pandemie und Krieg. Meine ukrainischen Kommilitoninnen haben ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Der Strauß bestand aus vielen Blumenarten, darunter auch einige Zweige Strandflieder. Die anderen Blumen verwelkten, nur der Strandflieder blieb unverändert. Meine Kommilitonin Valentyna und ich bastelten aus ihm einen neuen Strauß und ließen ihn auf unserem Fensterbrett im Studentenwohnheim stehen.

Das Schicksal dieses Straußes ist mir unbekannt. Bei Ausbruch des Krieges war ich im Ausland. Ich musste mein Studentenwohnheim räumen, ohne dass ich ihm persönlich Lebewohl hätte sagen können. Meine Tante war es, die für mich die Sachen holte. Sie durfte sich nur kurz im Gebäude aufhalten, die wichtigsten Sachen packen und dann verschwinden. Der Strauß Strandflieder, dieses Überbleibsel von Universitätsleben und Freundschaft, gehörte nicht zu diesen Sachen. Er blieb im Studentenwohnheim stehen. Andere Menschen sind dort eingezogen. Vielleicht erfreute sie der Blumenstrauß. Vielleicht wurde er auch weggeschmissen.

Der Mainzer Strandflieder, der nahezu identisch mit meinen Kyjiwer ist, ist doch nicht identisch. Ich kaufe ihn trotzdem, bastele aus ihm einen Strauß mit meiner Kommilitonin Dina und platziere ihn in meinem Mainzer Studentenwohnheim. Wegen dieses Déjà-vus fühle ich mich im Studentenwohnheim stecken geblieben. Aber in welchem — im Mainzer oder im Kyjiwer, oder in beiden auf einmal? In spüre keinen Raum und keine Zeit. Die Zeit ist verlorengegangen. Die Zeit ist bekanntlich eine ganz seltsame Sache. Sie vergeht immer anders: zu Hause oder im Ausland, im Frieden oder im Krieg, in Freude oder in Leid. Wenn ich die Zeit in Mainz doch spüre, vergeht sie meist unbemerkt. In einem Telefonat philosophiert meine Oma Natalka über die Flüchtigkeit der Zeit: “Viele wünschen sich, dass die Zeit stehen bleibt, wenn alles im Leben friedlich und schön ist. Die Zeit darf aber nicht stehen bleiben. Wenn die Zeit stehen bleibt, stirbt man”. Ich erinnere mich an die Blumen, die so schön und rasch verwelken. Nur mein Strandflieder verwelkt nicht — weder der von heute, noch der von damals.

Der Blumenstrauß - © Habriela Danko

2. Die Wände

Die Wände meines Zimmers hatten keinerlei Persönlichkeit, als ich im Oktober in mein Mainzer Wohnheim eingezogen bin. Es sei denn, man betrachtet Dreck auf den Wänden als ein charakteristisches Merkmal, oder als grunge, wenn Sie es neudeutsch ausdrücken wollen. Nicht nur die Wände, sondern mein ganzes Zimmer hatte keine Identität. Mein Mainzer Zimmer war nicht meins, obwohl ich die Schlüssel dazu besaß. So musste ich zwei Probleme auf einmal lösen: Die dreckigen Wände abdecken und sie dabei irgendwie zu meinen Wänden umzuwandeln. Ich fragte mich bloß, wie man das überhaupt machen sollte.

Um diese lebenswichtigen Probleme zu lösen, musste ich in Ruhe darüber sinnieren. Ich beschäftigte mich also mit grundlegenden philosophischen Fragen: Wer bin ich? Was ist Identität? Was ist MEINE Identität und warum klebt das verdammte Poster nicht auf dieser dreckigen Wand, sondern fällt immer runter – ist das wegen des ganzen Drecks?

All diese Fragen bleiben unbeantwortet. Es ist nämlich so, dass die Identitätsfrage keine einfache ist. Sie wird zu einer Bonusfrage, wenn man sich zwischen den Kulturen bewegt. Menschen wie ich werden oft als transkulturelles Produkt angesprochen. Diese kulturellen Produkte werden in Europa eher positiv betrachtet, und das völlig zu Recht! So meinte der allwissende Goethe: “Wie viele Sprachen du sprichst, sooft mal bist du Mensch”. Einen kleinlichen Einwand muss ich aber trotzdem vorbringen. Es ist schon extrem schwierig, mit einer homogenen Identität zurechtzukommen, aber Goethe deutet mit seinem Zitat doch irgendwie zusätzlich an: Je mehr Identitäten, desto besser. Im Prinzip ja, aber auch nicht. Es ist ein „Jein“, wie man in Deutschland gerne sagt. Denn für transkulturelle Produkte werden allzu oft die Gebrauchsanweisungen nicht gelesen. Wenn dieses Produkt nicht die Funktionen erfüllt, die man von ihm erwartet, wird seine ganze Sinnhaftigkeit in Frage gestellt. Einer sagt: “Ich kann diesen blöden Wasserkocher nicht zusammenbauen, also schmeiße ich ihn weg”. Das wäre sinnvoll, wäre der Wasserkocher nicht in Wirklichkeit ein Toaster. Den transkulturellen Produkten geht es ähnlich. Wenn man missverstanden wird, fühlt man sich einsam, eingekesselt von den vier Wänden der stereotypischen Denkmuster. Um diese Wände zu verbergen, sucht man nach bunten Postern und klebt sie mit Mühe auf, mit der gewissermaßen naiven Hoffnung, den eigenen Raum lebhafter zu gestalten und die unangenehmen Stellen zu verbergen. Die Poster, die sowieso auf halb acht hängen, können eine Tatsache nicht verändern: Die dreckigen Wände sind immer noch da.

3. Der Briefkasten

In meinem Briefkasten gibt es nur Luft. Der einzige Brief, den ich gleich nach meinem Einzug bekommen habe, war der Brief mit meiner Steuernummer. Jedesmal, wenn ich den Briefkasten danach öffnete, sah ich: nichts. Zumindest dann, wenn man den Pizzeriaflyer nicht mitzählt. Sogar die ARD mit ihrem Rundfunkbeitrag hat mich vergessen. Niemand sucht mich hier, niemand kennt mich hier. Beim Öffnen des Briefkastens wäre mir fast so, als ob ich hier in Mainz nicht existierte — die ARD findet bekanntlich jeden, nur mich nicht.

Nach dem erfolglosen Kontrollieren des Briefkastens gehe ich zur Haltestelle gleich neben meinem Studentenwohnheim. Ich stehe da und höre mir die Sprachnachricht von meiner ukrainischen Freundin an — ohne Kopfhörer. Ihre Sprachnachrichten haben nicht selten expliziten Inhalt. Egal! Die Umstehenden werden sie sowieso nicht verstehen. Wenn es doch den ein oder anderen Ukrainer in der Nähe geben sollte, der allem zuhört — das wäre sein Problem, nicht meins. Ich steige in den Bus ein, setze mich auf einen freien Platz am Fenster und schaue in die Dunkelheit. Es regnet. Ich gucke auf die Tropfen, die schnell und schräg herrunterrutschen. Im Spiegel des Fensters betrachte ich die Menschen. Es ist sehr praktisch, die Menschen im Spiegel zu beobachten: Man wirkt dann weniger wie ein Creep.

In solchen Momenten des Fremdenbeobachtens schaffe ich eine Distanz zwischen der Welt und mir. Falls mir ein Gegenübersitzender doch etwas Aufmerksamkeit schenkt, dauert es wahrscheinlich nicht länger als ein paar Sekunden. Sie denken jetzt vielleicht, es ginge gerade um die Einsamkeit. Es ist in der Tat viel komplexer als das. Denn das Fremdsein ist wahrhaftig ein befreiendes Gefühl. Der Schriftsteller Mark Twain meinte: „Dance like nobody’s watching”. In der Fremde lerne ich nicht, nicht fremd zu sein. Stattdessen lerne ich, ich selbst zu sein. Dabei werde ich manchmal so ungefiltert, dass ich mich selbst nicht erkenne. Ein Beispiel ist die Geschichte von meinem roten Mantel, den ich in Frankfurt gekauft habe. Vor meinem Aufenthalt in Mainz trug ich nie ein schreiendes Rot. Eines Tages sah ich in einem Frankfurter Souvenirshop einen knallroten Mantel. Um ihn herum konnte man billig aussehenden Schmuck, banale Postkarten und seltsam national anmutende T-Shirts erstehen. Ich kaufte mir den leuchtenden Mantel und zog ihn gleich an. Seine Farbe erinnerte mich an den Film “Fight Club”, an den von Brad Pitt verkörperten Charakter. Der Mann namens Tyler Durden trägt eine knallrote Jacke und eine Brille mit roten Gläsern. Der Wendepunkt des Films ist übrigens so: Tyler Durden hat nie existiert, er war eine bloße Halluzination der Hauptfigur.

Im rotem Mantel kehre ich zurück ins Wohnheim und überprüfe noch einmal meinen Briefkasten. Zum ersten Mal seit Monaten finde ich einen einzigen Brief. Ich überlege, ob die ARD mich doch gefunden hat. Ich lese mich ein und sehe — der Brief ist an den vorherigen Einwohner adressiert. Ich frage mich, ob ich selbst eine Halluzination bin.

4. Der Ofen

Der Ofen in meinem Studentenwohnheim war schwärzer als die Nacht in der Hälfte zwischen Sonnenauf- und -untergang. Mit einem Blick konnte man erschließen, dass er seit Äonen keinen Kontakt mit Reinigungsmitteln gehabt hatte. Erst meine Generation nahm das Steuer in die Hand. Zusammen mit meiner italienischen Mitbewohnerin Margherita reinigte ich den Ofen. Wir beide sind eifrige Bäckerinnen und brauchten die Feuerstelle. Wir übergossen den Ofen mit Fettlöser, okkludierten ihn mit Frischhaltefolie und warteten, bis die Chemikalien einwirkten. Danach mussten wir den Ofen tausendmal spülen; immer wieder war der Schwamm schwarz wie Kohle. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, den wir glücklicherweise gewannen.

Der gereinigte Ofen leistete mir danach gute Dienste. Einmal vergaß ich, dass der Samstag schon vorbei und der Sonntag angebrochen war. Sonntag ist bekanntlich der Tag des staatsübergreifenden Nicht-Geöffnet-Seins. Ich hatte nichts eingekauft, und daher war fast nichts in meiner Küche — nur Mehl, Parmesan und eingelegten Sauerkirschen. Mein Magen verlangte jedoch nach heißem Essen. So kam ich auf die Idee, eine Sauerkirschpizza zu backen. Zum Glück sah meine italienische WG-Nachbarin nicht, was für eine Ketzerei ich kreiert hatte.

Nach der großen Reinigung der WG-Küche verwandelte sie sich in einen Begegnungsplatz. Wegen des sauberen Ofens fühlte ich mich wie ein Prometheus — ein Feuerbringer, der mit dem Feuer eine Zivilisation erschafft. Das ist kein Zufall, denn mein Namensvetter aus dem sowjetisch-ukrainischen Zeichentrickfilm “Die Legende vom brennenden Herz” (ukr. “Легенда про полум’яне серце”) teilt den gleichen prometheischen Auftrag. In diesem Trickfilm geht es um einen jungen Mann namens Danko, dessen Volk im dunklen Wald eingeschlossen ist. Um alle zu retten, reißt Danko sein brennendes Herz aus der Brust und beleuchtet mit ihm den Weg in die freie Steppe. Sobald alle wohlbehalten aus dem Wald herausgekommen sind, fällt er tot um. Nun, nach der Reinigung des Ofens bin ich nicht tot umgefallen, aber todmüde war ich schon.

Essen, eine eigentlich ganz banale Tätigkeit, ist für das Wohlbefinden notwendig, das wissen alle. Wenn ich nach der Uni todmüde bin, esse ich Instant-Ramen in meinem Zimmer, verborgen vor der Welt. So allein wie der an den Felsen gefesselte Prometheus. Er leidet, weil der Adler an seiner Leber pickt. Auch meine Leber leidet: An ihr pickt das Glutamat. Eigentlich weiß ich ganz gut darüber Bescheid, dass man sich richtig ernähren, regelmäßig aufräumen und genug sozialisieren soll. Tue ich es nicht, dann nicht wegen des fehlenden Wunsches. Jeder sehnt sich nach Wohl und Behaglichkeit. Doch dafür braucht man genügend Ressourcen.

Zum Glück hatte ich Kraft und Lust, um die Mainzer WG-Küche zu beleben. Das gemeinsame Kochen und Backen wurde zu einer kleinen Tradition. Zusammen bereiten meine Mitbewohner und ich das Essen zu. Auf diese Weise stärkten wir unsere Gesundheit und bewältigten die Einsamkeit, die man in der Fremde fühlt. Die Fremde ist langsam nicht mehr fremd, und die Einsamkeit ist nicht mehr so einsam. Diese Woche backe für alle noch einen Quarkkuchen nach dem Rezept meiner Mutter. Die Zutaten muss ich noch einkaufen. Hauptsache, ich schaffe es vor Sonntag in den Supermarkt.

5. Die Türen

In meinem Leben habe ich schon eine Unmenge von Türen geöffnet und geschlossen. Alle hatten ihren eigenen Charakter. Die Mainzer Klotüren, beklebt mit Memes und Radioaktivitätsformeln, sind spaßig. Die Aluminiumtüren, die mein Vater selber zusammenbaut, sind bewundernswert. Und die unterirdische Brandschutztür, die zum Waschraum in meinem Studentenwohnheim führt, ist die nervigste Tür, die je existiert hat. Sie ist einer der Hauptgründe, weswegen ich das Wäschewaschen stets prokrastiniere. Wenn ich doch Mut finde, die Wäsche zu waschen, gehe ich in den Keller und presse mich mit meinem ganzen Körper an die Tür, um sie zu öffnen. Beim Drücken frage ich mich, wie eine Person mit körperlicher Behinderung diese Tür öffnen soll, und wie Inklusion und Sicherheitsmaßnahmen in diesem Land insgesamt koexistieren.

Eine Anmerkung für diejenigen, die die Zweckmäßigkeit von Brandschütztüren eifrig verteidigen wollen: Ich weiß ganz genau, dass das Gewicht der Tür eine Frage der Sicherheit ist. Diese Erklärung macht die Brandschutztür für mich aber nicht angenehmer. Und um der Gerechtigkeit Willen: Meine Lieblingstür kommt auch aus Deutschland! Es ist die politisch hochaufgeladene Klotür der Universität. Jedesmal, wenn ich auf eine solche Klotür schaue und ihre politischen Botschaften lese, stelle ich mir ein sehr amüsantes Bild vor: Ich sehe die Studierenden, die schwungvoll ihre Aussagen unterstreichen, durchstreichen, bemalen oder aggressiv auskratzen. Vor der Uniklotür fühle ich mich wie in einem Museum für Postmodernismus. Ich sehe die Toilettenkunst genau an und frage mich: Hatte der Künstler die Hosen hoch oder runter beim Dichten? Freut sich die Putzkraft über solch aktive demokratische Bürgerbeteiligung? Oder bleibt die Klotür wegen der mangelnden Digitalisierung Deutschlands ein so populäres Medium?

Ein ungebetener Vorschlag für die Unis und für diejenigen, die sich gerne auf Klotüren ausdrücken: Streichen Sie Klotür und Klowände mit Tafelfarbe! Oder hängen Sie zumindest riesige Papierrollen auf. Filzstifte oder Kreide sollte man zum Kloinventar hinzufügen, dann wäre die Sache mit dem Vandalismus bestimmt erledigt. Vandalismus ist nervig. Und was ist noch nervig? Ja, die Tür. Denn alle Türen haben etwas Nervigeres, und zwar: Sie alle müssen irgendwann zum ersten Mal geöffnet und zum letzten Mal geschlossen werden. Es ist anstrengend, zumal es eine Unmenge von Türen gibt, die für unterschiedliche unbekannte Möglichkeiten stehen. Sogar Geburt und Tod sind symbolische Türen, wie es der Buchtitel der Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar verrät: „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“. Rausgehen muss auch ich bald: In ein paar Tagen ziehe ich aus meinem Studentenwohnheim aus. Vor ein paar Monaten war ich noch der ungeschickte Affe, der nicht genau wusste, auf welche Weise man die Tür mit dem rätselhaften Wunderschlüssel öffnet. Jetzt, wo ich mit der Tür vertraut geworden bin, muss ich sie für mich endgültig schließen und gehen. Manchmal will man die Tür gar nicht schließen, aber es gehört sich nicht — als anständiger Mensch muss man die Tür ja nach sich schließen, egal welche. Am besten schließt man sie leise und knallt sie nicht zu wie ein Barbar. Die Brandschutztür gefällt mir deswegen nicht, weil sie beim Schließen hinter mir immer knallt, mich schlägt, auf meine Kleidung einhackt. Ihre boshafte Attitüde werde ich nie vergessen. Sowie den blauen Fleck, den sie einmal auf meiner Hüfte hinterlassen hat. Diese Tür werde ich trotzdem vermissen — gewiss wegen des Stockholmsyndroms, das ich unglücklicherweise in dieser Mainzer Zeit entwickelt habe.

6. Der Trichter

Der Trichter, der weihevoll an der Wand meiner WG-Küche hängt, ist eine infernalische Erfindung. Bevor ich nach Mainz kam, wusste ich überhaupt nicht, dass ein Trichter nicht nur ein Trichter sein kann, sondern auch ein Gerät fürs Biersaufen. Dass ich diese Menschheitserfindung als infernalisch bezeichne, ist übrigens keine Bewertung meinerseits. Es ist ein bloßes Faktum. Mein Vater würde den Trichter bestimmt verurteilen. Er hat mich gelehrt, dass man Bier genießen soll, besonders wenn es gut schmeckt. Deutsches Bier zählt bekanntlich zu den besten Bieren der Welt. Dennoch sehe ich hier in Mainz, wie Menschen mit diesem Getränk verschwenderisch umgehen. Als meine deutschen WG-Nachbarn zur
Fastnacht Bier trichterten, war ich tief bestürzt. Das verschwenderische und grenzüberschreitende Verhalten ist jedoch Bestandteil der Fastnacht. Am Fastnachtsdienstag saß ich in der Straßenbahn Numero 53 und betrachtete wie immer die Menschen rundherum. “Hast du die Fassenacht überlebt?” Ich belauschte diese Frage im Gespräch zweier junger Männer. Beide waren in schwarze, formlose Jacken gekleidet. ‚Überlebt‘ ist in dem Fall keine Übertreibung. Aus meiner Sicht ähnelt das Fest einem Survival-Spiel: Die Supermärkte und Läden werden von zombiehaften Schoppenstechern eingekesselt, im Hintergrund schlummert immer die Möglichkeit einer Stampede und der Kampf für die öffentlichen Toiletten geht beinahe um Leben und Tod.

Bei diesem Survival-Spiel wollte ich trotzdem mitspielen, und es hat mir sehr gut gefallen. Ich habe nämlich eine Schwäche für absurden Irrsinn und konstruiertes Chaos. So ist es mit den Deutschen: Sie sind auf eine verrückte Weise organisiert und auf eine organisierte Weise verrückt. Das Chaos der Fastnacht wirkt dabei nicht ganz authentisch, es sieht eher aus wie eine geschickt programmierte Fassade. Es gibt sogar einen sehr ernsten Fastnachtsverein, der die Regie für das Chaos übernimmt. Wenn es in der Ukraine Fastnacht gäbe, gäbe es dafür bestimmt keinen Fastnachtsverein. In der Fastnachtszeit und auch in anderen Dingen fällt man in Deutschland aus einem Extrem in ein anderes und empfindet das als Norm. Am Fastnachtsdienstag sah ich überall närrische Zombies und schon am Aschermittwoch beobachtete ich, wie Menschen auf ihren Knien demütig beteten, mit einem Aschenkreuz auf ihrer Stirn.

All das ist normal. Aber nicht für die Fremden, zumindest nicht für mich. Nach meiner Empfindung ist man in der Ukraine maßvoll verrückt. Wenn man feiert, ist man ungefähr so verrückt wie im Alltag und umgekehrt. Das ist meine Normalität, doch auch sie ist relativ. Was man als ‚normal‘ bezeichnet, ist zwischen den Grenzen und Zeiten anders. Nehmen wir als Beispiel die didaktische Idee ‚Nürnberger Trichter‘ aus dem 17. Jahrhundert — dass man als Lernender am besten die Inhalte passiv ‚eingetrichtert‘ bekommt. Diese Idee war im Ursprung eine Parodie und ist per se absurd. Trotzdem findet man gestern, heute und sogar morgen Beispiele für solches Lehrverfahren.

Apropos Trichter: Müsste ich wählen, was ich eingetrichtert bekomme, dann lieber Kenntnisse als Hochprozentiges. Mag sein, dass Normalität relativ ist und alles auf einmal normal und unnormal sein kann. Der Trichter zum Saufen bleibt trotzdem objektiv unnormal. Es existiert sogar ein ‚Alkoholeinlauf‘ — bei meiner Recherche stieß ich auf dieses wilde Verfahren. Der Leserschaft, die sich nicht mit dem Begriff auskennt, rate ich dringend davon ab, ihn zu googeln. Die Neugierde der Menschen ist zeitübergreifend, doch bleiben manche Dinge lieber im Verborgenen.


Die Rechte für die Projektinhalte liegen bei den jeweiligen Studierenden.